TRIKESTRA 360° #beethoven_rotation digital

Beethoven in 360 Grad und 28 Tagen – ein viraler Hit

„Probably the most impressive ‚digital version‘ of a live event of this new contact-less era. We hope to see more things like that soon!“ – iheartberlin.de

Seit 2019 realisieren das improvisierende Stegreif.Orchester (STGRF), das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) und die junge norddeutsche philharmonie (jnp) gemeinsam große und kleine Projekte, um währenddessen über ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu lernen. Am 9. April 2020 sollte eine aufwendige Produktion rund um Beethovens 6. Sinfonie „Pastorale“ unter künstlerischer Führung einer Projektgruppe der jnp entstehen. Aufgrund der Corona- Pandemie musste das Projekt, nach einjähriger Planungsdauer am 11. März, weniger als einen Monat vor dem Termin abgesagt werden.

Im Krisentreffen der drei Parteien am Freitag, den 13. März wurde in gemeinsamer Ideenentwicklung der Grundstein für einen neuen Plan gelegt: Ein aufwändig produziertes Video des Pastorale-Auszugs „Lustiges Zusammensein der Landleute“ mit Selfievideos von Mitgliedern aller Orchester sollte der Situation mit feiner Ironie etwas Hoffnung abgewinnen; als Inspiration für die Umsetzung diente u.a. Jacob Collier – „Moonriver“. Die Veröffentlichung wurde für den Konzerttermin in vier Wochen terminiert. Ein umgehendes Bekenntnis der Kulturstiftung des Bundes als fördernder Kooperationspartner und des DSO als Projektträger ermöglichte ein schnelles Handeln (Tag 3 nach Absage).

Über das Wochenende wurde eine Task Force für die Umsetzung gebildet: Marcel Alber hätte die Probenzeit und das Live-Konzert dokumentiert. Er nahm den neuen Gedanken auf und stieß mit der Idee einer Umsetzung in 360° auf offene Ohren. Dieses war das Stichwort für eine Anfrage an Videoartist Lucas Gutierrez, ob er umgehend Zeit hätte. Für die Tonbearbeitung wurde der für das Konzert eingeplante Tonmeister Wanja Hüffell kontaktiert, ob er für die neue Aufgabe ebenfalls zur Verfügung stünde (Tag 4).

Eine Woche nach der Absage waren alle Beteiligten in das neue Vorhaben einbezogen, umfassend über den Ideenstand sowie die neuen Teammitglieder informiert und trafen sich zu einer unter Hochdruck abgestimmten Videokonferenz (Tag 7). Neben Marcel Alber, Lucas Gutierrez und Wanja Hüffell nahmen fünf künstlerische und organisatorische Orchestervertreter teil: Juri de Marco (STGRF, künstlerischer Leiter), Viola Schmitzer (STGRF, Choreografie), Lea Heinrich (DSO, Projektleitung TRIKESTRA), Eva Kroll (DSO, Assistenz), Konstantin Udert (jnp, Geschäftsführer). In eineinhalb Stunden wurden Ideen konkretisiert sowie ihre Umsetzbarkeit diskutiert, offene Fragen dokumentiert und ein grober Zeitplan aufgestellt. Nach der Klärung offener Fragen und einer weiteren eineinhalbstündigen Videokonferenz zwei Tage später, fiel der Startschuss für die Produktion: Am gleichen Tag noch wurden Noten, präzise Anleitungen, Demo-Videos und Rundmails komplettiert und am Folgetag mit einer äußerst kurzen Frist an die Orchestermitglieder versendet (Tag 10).

14 Tage nach der Konzertabsage und einer intensiven internen Kommunikation innerhalb der Orchester lagen fast 70 sehr gute Selfievideos im Upload-Ordner. Die Postproduktion konnte unverzüglich starten und der sehr geringe zeitliche Puffer wurde zu keiner Zeit berührt: Innerhalb von drei Tagen waren die Handyvideos geschnitten, farblich vereinheitlicht, ihre Größe skaliert, die Tonspuren exportiert uvm. Nach der Übergabe der 68 einzelnen Videos (Tag 18) wurde die Arbeit am Audiotrack aus den einzelnen Handytonspuren sowie der an der Animation aufgenommen und eine weitere Woche später abgeschlossen (Tag 25). Neben dem kontinuierlichen Dialog zu Detailfragen in der Postproduktion wurde die Veröffentlichung vorbereitet und neben der Presseansprache wurde mit hoher Priorität eine präzise interne Kommunikation in die Orchester koordiniert.

Auch die letzte Hürde konnte problemlos mehr als 24 Stunden vor der Veröffentlichung überwunden werden: Der Upload des etwa finalen vierminütigen Videos mit etwa 6 Gigabyte (360° in 8K) verlief problemlos.

Vier Wochen für vier Minuten Online Content klingt viel. In Wahrheit sind vier Wochen Lichtgeschwindigkeit, um mit zahlreichen Beteiligten von der gar nicht so kleinen Idee über ein künstlerisches Konzept, die Zusammenstellung eines ausführenden Teams und Rollenklärung, die Durchführung einer komplexen und mehrstufigen Produktion zur Veröffentlichung zu kommen.

Das Fundament war aber gelegt: Die Orchestervertreter*innen kannten sich und die Finanzierung war vorhanden. Natürlich passte die Herausforderung perfekt in die Situation, dass allen Beteiligten diverse Absagen den Terminkalender geleert hatten. Unverändert blieb jedoch die komplexe Tatsache, mit drei unterschiedlichen Orchesterprofilen an einer Idee zu arbeiten. Die Vorbereitung des geplanten Konzerts hatte unzählige Meetings gedauert (der einzigartige Aufwand lässt sich mit dem Prozesswert dieser Kooperation rechtfertigen), aber zum Erreichen des neuen Ziels unter hohem Zeitdruck war für alle offensichtlich ein Moduswechsel notwendig.

Die schnelle Klärung der Verantwortlichkeiten und die gemeinsame Zeitplanung waren sehr hilfreich und beides wurde bis zum Schluss diszipliniert eingehalten. Der Verlust des gewohnten Bedeutungsrahmens schuf eine Offenheit in den drei beteiligten Ensembles, die im Alltag undenkbar gewesen wäre. Die schnelle, starke und freiwillige Resonanz innerhalb der Ensembles ist bemerkenswert und auch die kollektive Ideenentwicklung im „Wettbewerb um die beste Idee“ zwischen den Projektpartner*innen auf Musiker*innen- wie Organsiationsebene.

Die Versuchsanordnung ist in einem spannenden Ergebnis gemündet: Die Kooperationsreihe, welche den Weg (zum Konzert) als Ziel definiert, hat einen enorm beschleunigten Prozess erlebt. Die offene Situation mit einem bestehenden Funding und einem engen Zeitrahmen bei zeitlich flexiblen Beteiligten konnte zu einem spannenden und hochwertigen Digitalerlebnis geführt werden.